Eine Absage an Bedenkenträger und Schwarzmaler und ein leidenschaftliches Plädoyer für mehr Optimismus und gemeinsame Anstrengungen – das war die Botschaft von Christian Wulff, der zu Gast bei der Industrie- und Handelskammer (IHK) Mittlerer Niederrhein war. Der Bundespräsident a.D. bestritt die Premiere des neuen Online-Veranstaltungsformats „IHK trifft …“. „Ambitionierte Anstrengungen für Deutschland“ lautete der Titel seines Vortrags. IHK-Hauptgeschäftsführer Jürgen Steinmetz begrüßte den Gast. „Leider müssen wir wegen der Corona-Pandemie auf unsere etablierten wirtschaftspolitischen Veranstaltungen verzichten. Dennoch möchten wir Impulse setzen und haben daher ,IHK trifft…‘ ins Leben gerufen“, sagte Steinmetz und animierte die Zuschauer an den Bildschirmen, von der Chat-Funktion reichlich Gebrauch zu machen uns so für eine rege Diskussion zu sorgen. IHK-Präsident Elmar te Neues stimmte die Gäste auf das Thema des Vortrags ein: „In den vergangenen Monaten ist uns bewusst geworden, dass es in vielen Bereichen hapert. Wir sind jetzt in einer Phase der Krise, in der wir nach vorne blicken müssen – in der wir Ideen benötigen, wie es besser geht.“
Wulff nahm die Gäste mit auf eine „Reise zu vier Etappen, vier Herausforderungen“, die wesentlich für die Zukunft des Landes seien: Umwelt, Vielfalt, Digitalisierung und Europa. Zum Thema Umwelt und Nachhaltigkeit erinnerte der Bundespräsident a.D. an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutz: „Das Gericht hat uns unsere moralische Verpflichtung vor Augen geführt, dass wir Verantwortung für nachfolgende Generationen haben.“ In weiten Teilen der Bevölkerung, und auch bei der Wirtschaft, sei das Bewusstsein für Nachhaltigkeit inzwischen Allgemeingut. Eine funktionierende Kreislaufwirtschaft sei möglich. Deutschland habe die besten Voraussetzungen dafür, beim nachhaltigen Wirtschaften eine Vorreiterrolle einzunehmen.
Eine Grundlage dieser Stärke Deutschlands sei seine Vielfalt, so Wulff. Es gebe eine Vielzahl von Menschen mit Migrationshintergrund, die Tag für Tag außerordentliches für das Land leisten. „Bei uns kann jeder etwas aus sich machen, und wir sind auf Fachkräfte aus aller Welt angewiesen.“ Doch Integration gelinge nur auf der Basis von Respekt und Zusammenhalt. „Die Menschen wollen eingebunden werden“, sagte Wulff. „Wir sollten weniger fragen, wo jemand herkommt, und mehr fragen, wo jemand hinwill.“
Auch beim Thema Digitalisierung sieht der ehemalige Bundespräsident viel mehr Chancen als Gefahren. „Wenn wir Covid-19 als Weckruf verstehen, ist die Pandemie eine Aufforderung, jetzt endlich zu handeln“, appellierte Wulff. „Wir brauchen eine Digitalisierung der Verwaltungen auf allen Ebenen genauso wie eine Vernetzung von Lehrern und Schülern und die Nutzung der besten didaktischen Angebote im Netz zur Vermittlung von Wissen.“ An den Schulen sei erkennbar, welchen Stellenwert die Zukunft eines Landes habe. „Die Jugend braucht viel mehr Aufmerksamkeit!“
Die vierte und letzte Etappe seines Vortrags nannte Wulff „Optimismus für Europa“ und kritisierte die pessimistische deutsche Grundhaltung mit einem Tucholsky-Zitat: „Auch wenn ein Deutscher nichts hat, Bedenken hat er.“ Noch nie seien die Menschen in Deutschland so frei, so gebildet und so gesund gewesen wie heute. Europa sei dabei das „Ass im Ärmel“ Deutschlands. Der EU sei es gelungen, in vielen Bereichen Normen für die Welt zu setzen. Ein Drittel der Hidden Champions der Welt seien in Deutschland ansässig. „Wir sind auf Europa und einen freien internationalen Handel angewiesen.“ Es gebe deutliche Anzeichen für einen breiten wirtschaftlichen Aufschwung nach der Pandemie, prognostizierte Wulff: „Wenn wir aus den Fehlern der Vergangenheit die richtigen Konsequenzen ziehen, können wir die Herausforderungen der Zukunft meistern – mit Optimismus, Zutrauen und Stolz für Europa.“
In der anschließenden lebhaften Diskussion war die Themenpalette vielfältig: Stärken und Schwächen des Föderalismus und die Kosten für die Energiewende waren ebenso Thema wie das Tempo der Impfstoffentwicklung und aufkeimender Antisemitismus und Nationalismus. IHK-Präsident te Neues schilderte seine Beobachtung, dass sich Politik und Unternehmen zunehmend entfremden. „Wie kann man da gegensteuern?“ Der Bundespräsident a.D. teilte diese Einschätzung und verwies darauf, dass zu Beginn der Pandemie, bei der Beschaffung von Masken, die Kompetenz der Wirtschaft nicht ausreichend genutzt worden sei. Vielleicht könne die Corona-Krise ein Anlass sein, das Verhältnis von Wirtschaft, Politik und Verwaltung neu zu definieren.
Zum Abschluss bedankten sich te Neues und Steinmetz beim Gast und dem engagierten Publikum und verwiesen auf die kommende Folge von „IHK triff…“: Am 17. Juni wird Christian Lindner zu Gast sein.
Bildtext : Christian Wulff (l.), Bundespräsident a.D., sprach im Rahmen der Veranstaltung „IHK trifft …“. IHK-Hauptgeschäftsführer Jürgen Steinmetz (M.) und IHK-Präsident Elmar te Neues verfolgten den Vortrag. Foto: IHK