Siegen/Olpe. 1.237 Lehrverträge schlossen die IHK-zugehörigen Unternehmen in Siegen-Wittgenstein und Olpe im ersten Halbjahr 2020 ab – 442 weniger als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Der starke Rückgang von 26 % verteilt sich nahezu gleichgewichtig auf beide Kreise. „Ein deutlich sinkendes Lehrstellenvolumen hatten wir erwartet, einen solchen Einbruch jedoch nicht. Die Wucht, mit der der regionale Lehrstellenmarkt momentan nachgibt, ist schon erstaunlich. Dies umso mehr, als hunderte von Lehrstellen nach wie vor für geeignete Bewerber offenstehen.“ Mit diesen Worten kommentiert IHK-Hauptgeschäftsführer Klaus Gräbener die Lehrstellenlage in IHK-zugehörigen Unternehmen in Siegen-Wittgenstein und Olpe zwei Monate vor dem Start des neuen Ausbildungsjahres.
Man stehe in gewisser Weise vor einem Paradoxon. Einerseits sei es wenig hilfreich, eine Entwicklung wegdiskutieren oder gar schönreden zu wollen, die von einem derart starken Rückgang des bisherigen Volumens geprägt sei. Andererseits seien immer noch hunderte von Lehrstellen offen, die schnell mit geeigneten Bewerberinnen und Bewerbern zu besetzen wären. Vor diesem Hintergrund habe die IHK in den vergangenen fünf Tagen 670 ihrer rund 1.100 Ausbildungsbetriebe in einer breit angelegten telefonischen Blitzumfrage um ihre Einschätzung der Lage und auch um Nennung noch offener Stellen gebeten. Das Ergebnis sei erstaunlich gewesen. 57 befragte Unternehmen aus dem Kreis Olpe und 111 aus Siegen-Wittgenstein gaben an, gerne noch Lehrstellen mit geeigneten jungen Menschen zu besetzen. 358 offene Ausbildungsplätze wurden dabei der IHK gemeldet, 111 davon im Kreis Olpe und 247 in Siegen-Wittgenstein. IHK-Referatsleiterin Sabine Bechheim: „Rechnet man diese Zahl auf alle IHK-zugehörigen Ausbildungsunternehmen hoch, sind derzeit in rund 250 Unternehmen sicher noch 550 bis 600 Lehrstellen direkt zu besetzen. Gemeinsam mit der Agentur für Arbeit wird sich die IHK in den kommenden Wochen bemühen, im Lehrstellenendspurt 2020 zusätzliche betriebliche Ausbildungsverträge zu erreichen.“
Fast überhaupt kein befragtes Unternehmen gab an, aus der betrieblichen Erstausbildung aussteigen zu wollen. Viele haben jedoch ihr Ausbildungsengagement aus konjunkturellen Gründen reduzieren müssen. Hierfür sind aus Sicht der IHK insgesamt vier Sachzusammenhänge wesentlich. Zunächst entfallen rund 70 % der im IHK-Bereich eingetragenen Lehrverträge auf die heimischen Industrieunternehmen, die traditionell rund ein Jahr vor Lehrbeginn ihre Verträge unter Dach und Fach bringen. Im letzten Quartal 2019, also exakt in der Zeit, als die Lehrstellen für den Jahrgang 2020 zu besetzen waren, brach jedoch die Konjunktur erstmals deutlich ein. Dies erkläre zu einem wesentlichen Teil, dass die Industrie bei den eingetragenen Ausbildungsverträgen erstmals seit Jahren ihr Einstellungsverhalten drosselte. Klaus Gräbener: „Wer im Winter 2019 in der Industrie keine Lehrverträge abschloss, tat dies im Wesentlichen, weil er zuvor über Bedarf ausbildete oder ihn die damals schlechten konjunkturellen Aussichten veranlassten, in seiner Personalpolitik auf die Bremse zu treten. Corona war damals in der Wirtschaft ein Fremdwort. Die nachlassende Konjunktur spürten jedoch sehr viele“. Dass der Rückgang bei den industriellen Lehrstellen hier eine ihrer Hauptursachen hat, belegt auch die IHK-Blitzumfrage. Sabine Bechheim: „Nur 11 % der Unternehmen, die in diesem Jahr weniger ausbilden wollen als im Vorjahr, begründen dies mit der Corona-Pandemie.“ Dies sehe allerdings in Teilen des Handels, vor allem aber auch im Gastgewerbe und in der Reisebrache anders aus. Hier sind deutlichere Zusammenhänge zwischen dem Lehrstellenvolumen und der Corona-Pandemie feststellbar. Diese Branchen stellen traditionell spät ein, spielen jedoch in quantitativer Hinsicht für die heimische Lehrstellenversorgung nicht eine solche Rolle wie die Industrieunternehmen.
In den 670 Einzelgesprächen mit den Firmen wurde nach Angaben der IHK zudem sehr deutlich, dass nach wie vor sehr viele Unternehmen mit einer geringeren Bewerberanzahl zu kämpfen haben. Etliche seien darüber hinaus von der Qualität der eingehenden Bewerbungen regelrecht enttäuscht. Jeder sechste Betrieb, der weniger als im Vorjahr ausbilde, gebe dies als Ursache an. Klaus Gräbener: „Wir glauben zudem, dass viele Eltern ihren Kindern wegen der gravierenden wirtschaftlichen Unsicherheiten derzeit raten, zunächst noch ein Jahr in die Schule zu gehen oder aber ein Studium in Angriff zu nehmen, weil hier die vermeintlich größere Sicherheit gesehen wird. Zwar sind die wirtschaftlichen Zeiten schwierig, solche Ratschläge halten wir dennoch nicht für zielführend.“
Die IHK wird in den kommenden Tagen ihre Social-Media-Kanäle nutzen, die 355 offenen Stellen den jungen Menschen in der Region unmittelbar zuzuführen. Sie hofft, hierdurch noch zu zusätzlichen Lehrverträgen beizutragen. Dabei gehe man im engen Schulterschluss mit der heimischen Agentur für Arbeit vor. Gemeinsam habe man bereits abgestimmt, die traditionell erst im Oktober beginnenden Nachvermittlungsaktionen deutlich vorzuziehen und bereits im August zu starten. Zugleich hätten die IHK und die Agentur für Arbeit einen intensiven Informationsaustausch vereinbart, um die derzeitige Lage noch besser beurteilen zu können und ein regional abgestimmtes Handeln zu erleichtern. Klaus Gräbener: „Die Lage ist sicher erklärungsbedürftig, jedoch nicht ernst. Solange betriebliche Ausbildungsalternativen in derart reichlichem Ausmaß zur Verfügung stehen, erscheint auch eine Debatte über öffentlich finanzierte Stützprogramme verfrüht. Vorrang müssen die betrieblichen Alternativen haben.“