Siegen. Die Corona-Krise wird nicht in wenigen Wochen überwunden sein. Vielmehr wird sich der Schatten der Pandemie über einen sehr langen Zeitraum erstrecken. Das stellt die südwestfälische Wirtschaft vor große Herausforderungen, zumal sie derzeit ohnehin in besonderer Weise unter Druck steht, etwa bei der CO2-Reduzierung. Mit zwei vielversprechenden konzeptionellen Ideen zeigt der Lehrstuhl Wirtschaftsinformatik und Neue Medien der Universität Siegen in Abstimmung mit der Fachhochschule Südwestfalen auf, wie eine sinnvolle, zukunftsgerichtete Unterstützung für die hiesige Wirtschaft aussehen kann: Konkret geht es um die Gründung eines Institutes für Sozio-Informatik und die Umsetzung strukturpolitischer Maßnahmen, um insbesondere die exportbedingte Krisenanfälligkeit der heimischen Wirtschaft zu vermindern.
Beide Ansätze greifen die spezifischen Stärken und Probleme des regionalen Wirtschaftsraumes auf. Sie werden in dieser Woche an das Bundeswirtschaftsministerium und das Bundesministerium für Finanzen geleitet, um bei den Konjunkturhilfen des Bundes in Folge der Corona-Krise Berücksichtigung zu finden. „Satte 50 Milliarden Euro sieht das Konjunkturpaket des Bundes für Investitionen in Klimaschutz und Zukunftstechnologien vor. Südwestfalen verfügt über exzellente Voraussetzungen, um hier die richtigen Impulse zu setzen. Mit unseren Projektideen schlagen wir passgenaue Wege vor, die den heimischen Wirtschaftsraum strukturell nachhaltig unterstützen“, erläutert Prof. Dr. Volker Wulf, Leiter des Lehrstuhls und Koordinator des Kompetenzzentrums Mittelstand 4.0 Siegen.
Unterstützt wird die Initiative unter anderem durch die südwestfälischen Industrie- und Handelskammern. Gemeinsam wurden die Konzepte in den vergangenen Wochen auch an eine Reihe südwestfälischer Abgeordneter herangetragen. „Erste Reaktionen lassen uns auf eine breite politische Zustimmung in Berlin hoffen“, erklärt Klaus Gräbener, Hauptgeschäftsführer der IHK Siegen. „Die Botschaft an die Politik ist: Statt das Geld mit der Gießkanne über das ganze Land auszuschütten, sollte es dort investiert werden, wo sich punktgenau strukturwirksame Zukunftsimpulse setzen lassen, die vor allem beim heimischen Mittelstand ankommen.“ Hierfür lieferten die Überlegungen zu einem Institut für Sozio-Informatik und einem Reallabor für krisenfesteres Wirtschaften eine gute Grundlage.
Ohnehin sei Südwestfalen beim Thema Großforschung ein fast vollständig weißer Fleck. Klaus Gräbener: „Gerade hier haben wir Nachholbedarf. Kein Helmholtz-, Leibniz-, Max-Planck- oder Fraunhofer-Institut hat hier seinen Sitz. Ein Institut für Sozio-Informatik wäre aus Sicht der IHK ein geeigneter Ansatzpunkt, diese offenkundige Lücke zu schließen.“ Schließlich sei Südwestfalen eine der führenden Industrieregionen Deutschlands. Fast die Hälfte der Beschäftigten arbeitet im Produzierenden Gewerbe; und das fast ausschließlich in mittelständisch geführten Unternehmen. Die Industrie sichert seit jeher den Lebensunterhalt eines Großteils der Fachkräfte und ihrer Familien. Gerade für die traditionellen Industriezweige ist der Anpassungsdruck durch die zunehmende Digitalisierung riesig und wird durch die Auswirkungen von Corona weiter verschärft. Die Chancen durch neue Technologien sind für die heimischen Unternehmen keineswegs Neuland. Hierzu hat vor allem das Kompetenzzentrum Mittelstand 4.0 Siegen beigetragen: Seit seiner Gründung 2017 hat die Einrichtung über 4.300 Kontakte zu kleinen und mittleren Unternehmen in Südwestfalen hergestellt.
„Wenn wir gestärkt aus der gegenwärtigen Krise hervorgehen wollen, müssen wir jetzt alles dafür tun, die bisherigen Digitalisierungserfolge zu verstetigen, nach Möglichkeit über ganz Südwestfalen hinweg“, so Prof. Dr. Volker Wulf. Das Institut für Sozio-Informatik soll gezielt der Frage nachgehen, wie innovative digitale Technologien die Lebens- und Arbeitspraktiken der Nutzer beeinflussen und verändern. Damit finde der bisherige methodische Ansatz des Kompetenzzentrums Mittelstand 4.0 Siegen seine Fortführung, betont Prof. Dr. Wulf. „Der hohe Stellenwert, den die Beschäftigten in den heimischen Betrieben genießen, zeigt sich auch darin, dass die digitalisierungsgetriebenen Innovationsprojekte in den KMUs stets unter Beteiligung der Mitarbeiter und deren Interessenvertretungen weiterentwickelt werden.“
Ziel des Institutes soll sein, eine zentrale Anlaufstelle für angewandte Forschung und Entwicklung im Bereich digitaler Arbeit dauerhaft in Südwestfalen zu etablieren. Das Besondere besteht dabei in einer innovativen Form der Zusammenarbeit mit lokalen Partnern einerseits und einer wissenschaftlichen Begleitung der Digitalisierungsprojekte auf höchstem Niveau andererseits. Die Mitarbeiter werden in die Entwicklung und Einführung neuer Werkzeuge einbezogen. Klaus Gräbener: „Funktionierender Wissenstransfer läuft stets über Köpfe. Daher brauchen wir mehr „Grenzgänger“, die die beiden Sphären zusammenbringen, um den produktiven Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis zu verstetigen. Miteinander zu handeln ist schließlich immer besser als nur übereinander zu reden.“
Die zweite Projektidee zielt auf den Ausbau der Resilienz im heimischen Wirtschaftsraum, also der Widerstandsfähigkeit gegenüber tiefgreifenden, großräumigen Krisen. Neben einem besonderen Druck zur CO2-Einsparung ist die südwestfälische Wirtschaft durch einen hohen Exportanteil gekennzeichnet. Die ausgeprägte Außenwirtschaftsverflechtung bringt erhöhte Abhängigkeiten mit sich, die viele Betriebe derzeit besonders schmerzhaft zu spüren bekommen: Absatzmärkte im Ausland brechen reihenweise ein, unterbrochene Lieferketten lassen sich nur langsam und mühevoll wiederherstellen. „Bestehende regionale und europäische Kundenbeziehungen sowie die bewährte Zusammenarbeit der maßgeblichen wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen Akteure bieten vor diesem Hintergrund die Chance, hier neue Wege zu gehen. Hier können staatliche Hilfen zielgerichtet darauf hinwirken, Strukturen auf eine höhere Nachhaltigkeit und Krisenfestigkeit neu auszurichten“, unterstreicht Prof. Dr. Volker Wulf.
Wesentlicher Baustein der Überlegungen ist die Weiterentwicklung des Netzwerks der Kompetenzzentren Mittelstand 4.0, um die Unternehmen mit ihren spezifischen Lieferketten im Hinblick auf Ressourcen-Effizienz und Recycling fachlich zu begleiten. Auch ein Netzwerk lokal verankerter Forschungsinstitute, die sozio-technische Entwicklungsprozesse an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet entwickeln und vermitteln, könnte hier wertvolle Beiträge leisten. Um neue Souveränität über notwendige Infrastrukturen für Arbeit und Kommunikation zu gewinnen, soll der Aufbau von Open-Source-basierten Software-Systemen nachhaltig gefördert werden. Weitere Elemente sind die Förderung zivilgesellschaftlicher Initiativen, wie Repair-Cafés, und die gezielte Unterstützung ehrenamtlicher und freiwilliger Arbeit. In einem Netzwerk von „Reallaboren“ können schließlich Unternehmen und Privatpersonen gemeinsam kreative Ideen und Ansätze für nachhaltigeres, regionales Wirtschaften entwickeln.
Klaus Gräbener: „Die Krise trifft Südwestfalen mit voller Wucht. Ein ‚weiter wie bisher‘ darf nicht unsere Antwort sein. Mit diesen südwestfälischen Ansätzen könnte den mittelständischen Unternehmen geholfen werden, schneller wieder Tritt zu fassen und strukturell gestärkt in die Zukunft zu gehen. Wir hoffen sehr, dass diese Ideen in Berlin auf fruchtbaren Boden fallen und man uns dort – unterstützt von den heimischen Abgeordneten – zu einer weiteren Präzisierung auffordert.“