Die Zukunft der digitalen Medizin mitgestalten

Im Wintersemester 2021/22 ist an der Universität Siegen ein besonderes Lehr-Angebot gestartet. Studierende der Universitäten in Siegen und Rotterdam entwickeln aktuell Trainingsprogramme für Medizinstudierende in der Virtuellen Realität (VR) und der Augmented Reality (AR). Das Ganze ist Teil eines internationalen Spezialkurses in den Bachelorstudiengängen Medizin, Psychologie und Clinical Technology (Medizintechnik) des Erasmus Medical Center (EMC) der Universität Rotterdam. Die Rotterdamer Studierenden erlenen gemeinsam mit Studierenden des Siegener Studiengangs „Digitale Gesundheitswissenschaften“ Kompetenzen, um selbst medizinische Anwendungen für VR und AR zu entwickeln. „Wir möchten die Studierenden befähigen, selbst die Zukunft der digitalen Medizin mitzugestalten. Auf der Basis unserer Kooperation mit dem Erasmus Medical Center in Rotterdam können wir den Studierenden dieses besondere Lehr-Angebot machen“, sagt Professor Dr. Rainer Brück, Studiendekan der Lebenswissenschaftlichen Fakultät der Uni Siegen.

Gunnar Rosendahl (Siegener Student) und Tanner Tuttle (Psychologie-Student aus Rotterdam) sind zwei der insgesamt zehn Studierenden, die an diesem Spezialkurs teilnehmen. Der Siegener Rosendahl findet es besonders spannend, in einem internationalen Team zu arbeiten. „Der Kurs kombiniert modernste Hardware mit Lösungsansätzen für anspruchsvolle medizinische Probleme mithilfe von AR/VR, und das alles in Siegen“, schwärmt der Rotterdamer Tuttle. „Ich bin überrascht, denn viele größere Städte setzen sich für einen solchen Ansatz ein, aber die Universität Siegen macht es tatsächlich.“ Prof. Brück ergänzt: „Virtuelle Technologie-Inhalte fehlen bisher in Rotterdam. Die Rotterdamer empfinden den Siegener Kurs als sehr gewinnbringend, weil diese Inhalte ihr Studium hervorragend ergänzen.“ Bereits im November 2019 hatte die Universität Siegen einen Kooperationsvertrag mit dem Erasmus Medical Center im Rahmen des Modellvorhabens „Medizin neu denken“ unterzeichnet. Dieser ermöglicht spezielle Angebote in der Lehre, von der Studierende beider Universitäten profitieren.

Bei der VR-Anwendung handelt es sich um ein Ersthelfer-Training für Medizinstudierende. Nachdem die VR-Brille aufgesetzt ist, wird das Notfallgeschehen sichtbar: Ein kollabierter Passant liegt reglos auf der Straße. Mithilfe zweier Controller muss er untersucht und auf die Ankunft eines Notarztes vorbereitet werden. Sind die Atemwege frei? Ist das Genick stabil? Hat der Patient äußere Verletzungen? Ersthelfer müssen in solchen Situationen ruhig und konzentriert bleiben, um alle Erste Hilfe-Maßnahmen korrekt vorzunehmen. Die Trainingssoftware vermittelt die Schritte des ABCDE-Schemas, das in jedem Medizin-Lehrbuch steht – jedoch viel eindrücklicher und durch das interaktive Erlebnis direkter. Während das Vorgehen im Trainingsmodus Schritt für Schritt erklärt wird, müssen im Prüfungsmodus alle Schritte bereits verinnerlicht worden sein und selbstständig ausgeführt werden. Ziel des Trainings ist es, alle Schritte so stark zu verinnerlichen, dass eine Routine für den Ernstfall entsteht und kein Schritt vergessen wird. Zusätzlich können Kosten für Trainingsmaterialien oder Personal eingespart werden.

All diese Ideen und die Details haben die Studierenden selbst entwickelt und umgesetzt. Einige der Studierenden hatten bereits Vorkenntnisse in der Software-Entwicklung und im Bereich der medizinischen Informatik, andere nicht. In einem Theorie-Teil vermittelten Brück und seine KollegInnen des Medic@l XR Teams der Uni Siegen die Grundlagen. Danach ging es in die Praxis.

Neben dem Ersthelfer-Programm entwickelte eine Studierenden-Gruppe ein Trainingsprogramm, mit dem Medizinstudierende lernen sollen, den Herzschlag eines Patienten korrekt abzuhören. Ein virtuelles anatomisches Modell simuliert den Patienten. Mit einer AR-Brille können zusätzliche anatomische Strukturen eingeblendet werden – beispielsweise Blutgefäße, Muskeln und Knochen. Der Herzschlag muss im Trainingsprogramm an unterschiedlichen Stellen abgehört bzw. ertastet werden. Unter anderem muss das Stethoskop an die richtigen Stellen gesetzt werden. Je nach Stelle ertönen unterschiedliche Herzschläge. Aufgabe der Medizinstudierenden ist es, herauszufinden, ob es sich bei den Tönen um einen normalen Herzschlag handelt oder eine Herzrhythmusstörung vorliegt. Durch die eingeblendeten anatomischen Strukturen in der AR-Brille sollen die angehenden MedizinerInnen ein besseres Verständnis für die anatomischen Zusammenhänge bekommen.

Im späteren Arbeitsleben werden die Siegener und Rotterdamer Studierenden das Gelernte aus dem Spezialkurs effektiv anwenden können, ist sich Prof. Brück sicher. Aus dem Alltag im Krankenhaus wissen er uns seine KollegInnen der Lebenswissenschaftlichen Fakultät, dass es viele leistungsfähige Geräte in den Kliniken gibt. Gemacht seien sie aber von IngenieurInnen. „Ingenieure und Mediziner denken extrem unterschiedlich. Unser Kurs bringt ein Grundverständnis füreinander“, erklärt Brück. „Mediziner lernen, wie Geräte funktionieren, wie sie später im Beruf Probleme an Geräten lösen können. Sie können Verbesserungsvorschläge für Geräte besser kommunizieren und ihre Wünsche und Vorstellungen für Geräte äußern.“ All das werde später im Arbeitsleben nicht nur den MedizinerInnen selbst zugutekommen, sondern letztendlich auch den PatientInnen.